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31.10.20 –
Grimm setzt ein mit fast 100 Jahre alten Zitaten von Stefan Zweig, der beklagt, alles werde gleichförmiger, nivelliert von der Monotonie der „modernen Weltmaschine“. Bei dem Islamwissenschaftler Thomas Bauer leiht er den Begriff der „Vereindeutigung der Welt“ aus, den „Verlust von Mehrdeutigkeit und Vielfalt“. Überall mache sich Schwarz-Weiß-Denken breit.
Mit der Psychologin Else Frenkel-Brunswik beklagt der Autor den wieder um sich greifenden Mangel an Ambiguitätstoleranz, ein Begriff, den Frenkel-Brunswik kurz nach dem 2. Weltkrieg entwickelt hat. 1908 in Lemberg/Polen geboren war sie mit ihrer Familie vor einem Judenpogrom in Polen 1914 nach Österreich geflohen. In Wien studierte sie Mathematik und Physik, dann Psychologie, wurde promoviert und ließ sich zur Psychoanalytikerin ausbilden. Als Österreich 1938 „Heim ins Reich“ geholt wurde, musste Else Frenkel weiter nach USA fliehen, wo sie noch im selben Jahr die amerikanische Staatsangehörigkeit erhielt und heiratete. Mit anderen berühmt gewordenen Persönlichkeiten arbeitete sie über die „autoritäre Persönlichkeit“.
Ambo heißt eigentlich beide, ambiguus „sich nach beiden Seiten neigend“, auch vielgestaltig, mehrdeutig, ungewiss, strittig. Mangelnde Ambiguitätstoleranz ist also das Nicht-Ertragen-Können von Mehrdeutigkeit. Autoritäre Charaktere können mehrdeutige und gegensätzliche Sachverhalte nicht ertragen und sind unfähig, sich in die Sichtweise anderer Menschen im Sinne eines Perspektivenwechsels hineinzuversetzen. Es herrscht dann eine starre, unflexible, zwanghafte Haltung vor; Zwischentöne und komplexe Sachverhalte irritieren und werden abgelehnt. Diese Abwehrtendenz ist eng verwandt mit der negativen Einstellung gegenüber „Andersartigem“, mit Autoritarismus und Ethnozentrismus, d. h. der Ablehnung des (kulturell) Fremden.
Else Frenkel-Brunswik war maßgeblich an der Ausarbeitung der Skalen der empirischen Erhebungen beteiligt, die am Department of Psychology der University of California in Berkeley von Sanfort und Levinson gemeinsam mit dem emigrierten Frankfurter Institut für Sozialforschung zum Antisemitismus und zur autoritären Persönlichkeit durchgeführt wurden. Ich finde diese Skalen höchst interessant. Sie sind: die AS-Skala (für „Antisemitismus“), die E-Skala (für „Ethnozentrismus“) und die PEC-Skala (für „politisch-ökonomischen Konservatismus“), die zugrunde liegende autoritäre Persönlichkeitsstruktur in der F-Skala (für „implizite antidemokratische Tendenzen und Faschismuspotential“).
Die wiederum setzt sich aus folgenden tiefer liegenden Subskalen zusammen:
• Conventionalism – Festhalten an Hergebrachtem
• Authoritarian Submission – Autoritätshörigkeit/-unterwürfigkeit
• Authoritarian Aggression – Tendenz, Verstöße gegen hergebrachte Werte ahnden zu wollen
• Anti-Intraception – Ablehnung des Subjektiven, Imaginativen und Schöngeistigen
• Superstition and Stereotype – Aberglaube, Klischee, Kategorisierung und Schicksalsdeterminismus
• Power and Toughness – Identifikation mit Machthabern, Überbetonung der gesellschaftlich befürworteten Eigenschaften des Ich
• Destructiveness and Cynicism – Allgemeine Feindseligkeit, Herabsetzung anderer Menschen
• Projectivity – Veranlagung, an die Existenz des Bösen in der Welt zu glauben und unbewusste emotionale Impulse nach außen zu
projizieren
• Sex – Übertriebene Bedenken bezüglich sexueller Geschehnisse.
„Wem es … schwerfällt Mehrdeutigkeit auszuhalten, der entwickelt in seiner Not ein obsessives Verhältnis zur ‚Wahrheit‘. Als gebe es nur eine einzige. ‚Diesen Menschen macht Diversität Angst‘“, zitiert Grimm die Psychotherapeutin Astrid von Friesen. „ ‚Sie polemisieren gegen die Vielfältigkeit und wüten gegen Homosexuellenehen oder das dritte Geschlecht, obwohl es ihnen nichts nimmt und sie persönlich gar nicht tangiert‘. Im Kern beruhe die Überzeugung ‚Ich habe immer recht‘ auf mangelndem Selbstwert. ‚Ist die Ambiguitätstoleranz instabil, müssen sie sich innerlich schützen‘ – durch simple Botschaften, reine Gruppen, saubere Unterscheidungen und klare Verhältnisse‘. Es ist das Rezept aller möglicher ‚alternativer‘ Parteien“.
Weiter beschäftigt sich der Artikel von Imre Grimm mit der Frage der Toleranz im Islam und seiner Geschichte und mit Donald Trump. Die Betrachtungen über Trump will ich jetzt nicht besprechen, aber den Theologen in mir hat das Thema Islam schon interessiert.
Grimm zitiert noch einmal den schon eingangs erwähnten Islamwissenschaftler. Europa sei viele Jahrhunderte lang eine der ‚monokulturellsten Regionen der Welt‘ gewesen – „abgeschottet und geistig eng“. Auf den Handelsstraßen von Westafrika über den Orient bis nach China habe hingegen echte Multikulturalität geherrscht. Die Denker des Islam jener Zeit seien keine Dogmatiker gewesen. Dieser ursprüngliche Islam habe auch Sinnenfreude, Wein und Tanz zugelassen. Erst die Konfrontation mit dem modernen Westen habe zu Verunsicherung geführt. Mit dem kolonialistischen Westen, würde ich hinzufügen. Der „wachsende Zorn über das ‚Andere‘ [hat] seine Ursache in einem Gefühl der kulturellen Bedrohung“. Auch Gewalt und Terror können letztlich daraus erwachsen.
Über Trump will ich nicht schreiben; er surft sehr erfolgreich auf dem Zorn. Die Frage lautet: Haben „wir“ in Europa, in Deutschland zwei Jahrzehnte nach Anbruch des 21. Jahrhunderts die Enge, die Abschottung und die Ängste überwunden? Was ist, wenn die Angst von dem Verlust der Deutungsmacht die „alten weißen Männer“ radikalisiert? Was macht es mit uns, wenn im Wechselspiel der Demokratie plötzlich eine Partei, die fünfundzwanzig oder dreißig Jahre lang „vernünftige Politik“ gemacht hat, die Mehrheit einbüßt? Was, wenn es plötzlich mehrere Konzepte von „vernünftig“ gibt? Was geschieht, wenn wie in der gegenwärtigen Corona-Krise, eine völlig neue Situation auftritt, mit deren Bewältigung niemand Erfahrung hat? Was ist, wenn die Welt sich sowohl technologisch als auch ökologisch so schnell verändert, dass niemand „bewährte“ Rezepte anbieten kann?
Was, wenn plötzlich der Ruf nach Freiheit zur Legitimation für Verantwortungslosigkeit wird? „Ich habe die DDR erlebt, ich werde mich doch nicht von ein paar Überbesorgten vom Feiern abhalten lassen“! Oder wenigstens: „Warum soll ich nicht mein V8-Pickup fahren, Ihr Spaßbremsen?“
Was, wenn die Unübersichtlichkeit der Wirklichkeit den Menschen Angst macht? Was, wenn die einfachen Antworten plötzlich wieder Konjunktur haben? Was, wenn viele Menschen sich wieder Entlastung von einer autoritären Führung erhoffen – „… und über’s Jahr den neuen Führer…“? Was, wenn plötzlich die Demokraten mit den Populisten taktieren und paktieren? Was, wenn sich plötzlich der Chef der Verwaltung neu erfindet als Wächter der Wahrheit?
Die oben erwähnten Skalen sind nach beiden Seiten offen: Es gilt die Offenheit zu verteidigen, die Phantasie, die Vielfalt der Überzeugungen und der Lebensentwürfe, die Achtung anderer, die Achtung der ganz Andersartigen. Und gleichzeitig geht es darum die Übergriffigkeit der Enge, des Dogmatismus und eben des autoritären Charakters zurückzudrängen. „Ambiguitätstoleranz bedeutet nicht grenzenlose Akzeptanz alles Denkbaren. Es geht nicht um die Diktatur der maximalen Vielfalt. Es bedeutet nur, Raum für Vagheiten und Unklarheiten zu lassen, eben auch mal ‚gleichzeitig zwei einander diametral entgegengesetzte Gedanken im Kopf zu haben und trotzdem funktionsfähig zu bleiben (F. Scott Fitzgerald)“. Das ist auch eine Anforderung an uns.
„Das Problem der Freiheit ist ihre Vieldeutigkeit“. (Ernst Bloch)
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