Erster Entwurf Bundestagswahlprogramm

Mehr Europa für das Havelland

Warum wir Europa mehr denn je brauchen und wie wir zukünftig auch auf kommunaler Ebene Europapolitik grüner gestalten können

12.05.20 –

Am 9. Mai war Europatag. Unsere Bundestagsfraktion forderte zu diesem Anlass mehr Mut zu einem demokratischen, sozialen und solidarischen Europa. (1) Für uns Bündnisgrüne besteht kein Zweifel daran, dass wir globale Herausforderungen wie den Klimawandel und Pandemien nicht im nationalen Alleingang bewältigen können.

Zur Zeit sind jedoch viele Menschen von der EU enttäuscht. Trotz umfangreicher Informationen über die untragbaren und mit der Menschenwürde nicht zu vereinbarenden Lebensbedingungen in südeuropäischen Lagern für Menschen auf der Flucht gibt es immer noch keine solidarische EU-Strategie zur Bewältigung dieses Problems. Auch in der COVID-19-Pandemie spielt ein koordiniertes europäisches Krisenmanagement in der öffentlichen Diskussion keine Rolle. Stattdessen werden Grenzen geschlossen und jeder Staat – sowie in unserem Fall sogar jedes Bundesland – kocht sein eigenes Süppchen.

Als Bündnisgrüne erkennen wir, dass die COVID-19-Pandemie nicht nur aus medizinischer und bürgerrechtlicher Perspektive eine Gefahr darstellt, sondern auch die Finanzierung von Maßnahmen zur Bewältigung der Klimakrise bedroht. Auf dem Länderrat am 2. Mai 2020 haben wir daher beschlossen, Corona auch als Chance für eine gesellschaftliche Transformation zu mehr Nachhaltigkeit zu nutzen. Wir fordern, Konjunkturmaßnahmen konsequent an den sozial-ökologischen Umbau zu koppeln. (2) Klar ist jedoch, das Geld für das voraussichtlich milliardenschwere Corona-Konjunkturpaket kann nur einmal ausgegeben werden. Dies geschieht sehr wahrscheinlich vor der Bundestagswahl 2021. Bislang ist jedoch nicht zu erkennen, dass die aktuelle Bundesregierung unseren Empfehlungen folgt und staatliche Zuschüsse für klimaschädliches Wirtschaften ablehnt.

Wir sollten daher jetzt, wo eine Wende hin zu nachhaltigem Wirtschaften zur globalen Existenzfrage wird, unsere Hoffnungen und unseren Blick auf Europa richten. Die EU ist trotz berechtigter Kritik kein passiver Zuschauer in dieser Krise. Sie ist unsere größte Chance, die drohende Rezession historischen Ausmaßes mit Mitteln, die Klimaschutz, ökonomische Dynamik und sozialen Ausgleich zusammenbringen, zu bewältigen. Der European Green Deal (3) der Europäischen Kommission bleibt in einzelnen Punkten hinter dem Green New Deal (4) zurück. Er ist jedoch trotzdem ein ambitioniertes und vor allem zielführendes Klimapaket und stellt die bisherigen deutschen Bemühungen weit in den Schatten. Zusätzlich wird ab dem 27. Mai 2020 ein europäisches Klimagesetz im Umweltausschuss beraten und voraussichtlich im September 2020 im Europäischen Parlament mit dem Rat und der Europäischen Kommision verhandelt. (5) Hierbei handelt es sich nicht um leere Versprechen und aussichtslose Absichtsbekundungen, sondern um weitreichende und strukturelle Klimaschutzmaßnahmen, die eine Chance auf Umsetzung haben. Auf europäischer Ebene gibt es neben uns Grünen auch Spitzenpersonal in anderen Fraktionen und der Kommission (z.B. Frans Timmermans), welches sich für eine aktive und ambitionierte EU-Klimapolitik starkmacht. (6) Ein Konses auf europäischer Ebene muss hart erkämpft werden, birgt aber die Chance, dem Klimawandel europaweit gemeinsam entgegenzutreten.

Es wäre nun leicht festzustellen, dass man Europa und den damit verbundenen politischen Diskurs den Fachleuten im Europaparlament überlässt und privat die Daumen drückt, dass Europa in den globalen Krisen der Zukunft eine Führungsrolle einnehmen wird. Dies wäre jedoch ein Fehler, da Europa uns in unseren Gemeinden, Städten und in unserem Landkreis direkt betrifft. Dabei sind wir nicht einfach die unterste Ebene der ausführenden Organe, welche dazu gezwungen ist, immer neue Vorgaben aus Brüssel einseitig umzusetzen. Wir sind zum einen Gestalter vor Ort und setzten uns in unserer kommunalpolitischen Arbeit mit der konkreten Bewältigung überregionaler Probleme auseinander. Gleichzeitig können wir jedoch auch die europäischen Rahmenbedingungen mitgestalten, indem wir unsere regionale Expertise auf EU-Ebene einbringen. Unser Kreistag debattiert in seiner nächsten Sitzung zum Beispiel über die Aufnahme von minderjährigen Flüchtlingen aus griechischen Lagern und leistet so einen lokalen Beitrag zur Lösung eines europaweiten Problems. Unsere grünen Fraktionen in den Gemeindevertretungen und Stadtparlamenten arbeiten unter anderem unermüdlich daran, konkrete Klimaschutzmaßnahmen im Havelland umzusetzen. Aktuelle Beispiele hierfür sind Anträge mit dem Ziel Gemeinden auf Ökostrom umzustellen, kommunale Lastenräder zu beschaffen, einen Glyphosatverzicht durchzusetzen oder eine Verbesserung der Radwegeinfrastruktur zu erreichen. Dabei helfen uns Fördergelder und die entsprechenden rechtlichen Rahmenbedingungen, die oft auf höheren Ebenen beschlossen werden müssen. Um diese Förderung in unserem Interesse zu steuern und so effektiv wie möglich zu nutzen, ist es wichtig die später geschilderten Beteiligungsmöglichkeiten auf europäischer Ebene zukünftig zudem intensiver zu nutzen.

Eine solche Mitwirkung der Landkreise, Städte und Gemeinden an den politischen Prozessen der EU trägt dabei direkt zur Umsetzung unserer bundespolitischen Europastrategie bei. Im Zwischenbericht zu unserem neuen Grundsatzprogramm, welches wir voraussichtlich im Herbst beschließen werden, fordern wir Bündnisgrüne eine Weiterentwicklung der EU zu einer förderalen Struktur von Staaten, Regionen, Städten und Gemeinden, die sicherstellt, dass Entscheidungen immer auf der Ebene getroffen werden, auf der ein Sachverhalt am besten sachlich beurteilt werden kann. Wir sind damit Verfechter des Subsidiaritätsprinzip, welches vorsieht, dass Probleme immer so bürgernah wie möglich, also auf der niedrigstmöglichen Ebene, angegangen werden. Der andere Pfeiler unserer Europastrategie ist ein progressiver Regionalismus, der lokale Zugehörigkeit und gleichzeitig die zwischenmenschliche Solidarität weltweit vereint. (7) Damit diese Strategie aufgeht, braucht es ein Europa mit starken und gut vernetzten Regionen, die sich als selbstbewusste Akteure aktiv in den EU-Politikprozessen einbringen.

Hierfür gibt es bereits Instrumente und Beteiligungsmöglichkeiten wie den Rat der Gemeinden und Regionen Europas (RGRE) (8), welcher an der europäischen Gesetzgebung mitwirkt, die Interessen der Gemeinden und Regionen in Brüssel vertritt und den europaweiten Informations- und Erfahrungsaustausch fördert. Im RGRE sind wir Havelländer und unsere Nachbarn bisher stark unterrepräsentiert. Im einflussreichen Policy Committee und Executive Bureau des RGRE (9) stammen allein 6 von 14 Deutschen aus Baden-Württemberg und niemand aus einem der neuen Bundesländer. (10) Auch bei den deutschen Delegierten der Kammer der Gemeinden des Kongresses der Gemeinden und Regionen des Europarates (11) stammen 16 von 17 Delegierte aus den alten Bundesländern. Während Bayern allein 4 Delegierte entsendet, gibt es aus ganz Brandenburg niemanden. (12) Von den 21 deutschen Mitgliedern im Europäischen Ausschuss der Regionen (AdR) (13) stammt ebenfalls niemand aus Brandenburg. (14) Es ist durchaus bemerkenswert, dass die neuen Bundesländer kommunalpolitisch so wenig Einfluss auf die EU haben, da wohlhabende Regionen und insbesondere mit der deutschen Autoindustrie eng verbundene Orte im Vergleich signifikant überrepräsentiert sind. Ein anschauliches Beispiel ist die kleine Stadt Sindelfingen in Baden-Württemberg. Sie ist primär bekannt als Standort eines großen Mercedes-Benz-Werkes, hat nicht mal 65.000 Einwohner*innen und ist gleich mit zwei Kommunalvertreter*innen in den beschriebenen Gremien präsent. Ganz Brandenburg mit über 2,5 Millionen Einwohner*innen hat keine*n Vertreter*in in den beschriebenen Gremien. Die Städte Hannover (Volkswagen), München (BMW) und Stuttgart (Porsche und Mercedes-Benz) sind hingegen, ähnlich wie Sindelfingen, gleich mehrfach vertreten.

Die Existenz dieser Gremien zeigt uns Havelländer*innen jedoch, dass wir als Kreis und sogar als Stadt oder Gemeinde theoretisch die Möglichkeit haben, Europa direkt mitzugestalten. Unsere bündnisgrüne Europastrategie ermutigt uns, diese Gestaltungsmöglichkeiten wahrzunehmen. Die Erkenntnis, dass sich die akutesten Probleme unserer Zeit nur durch intensive internationale Kooperation lösen lassen, motiviert uns, auch bei uns im Havelland zur Entstehung einer europäischen Öffentlichkeit beizutragen und europäische Perspektiven stärker in den lokalen Diskurs einzubringen. Für eine bessere europäische Vernetzung brauchen wir jedoch zwei Dinge. Zum einen sind das kommunalpolitisch Aktive, die einen lokalen öffentlichen Diskurs zu europäischen Themen kontinuierlich fördern. Hierfür eignen sich zum Beispiel unsere grünen Salons sowie unsere grünen Stammtische. Zum anderen brauchen wir Kommunalpolitiker*innen im Kreistag oder in den Städte- und Gemeindevertretungen, die bereit sind sich mit der Arbeit der beschriebenen Institutionen auseinanderzusetzen, sich um einen Platz in den geschilderten europäischen Gremien zu bemühen und die den Willen haben unsere regionale Perspektive aktiv nach Brüssel zu tragen. Es ist Zeit für mehr Europa im Havelland und für mehr Havelland in Europa.

 

(1) www.gruene-bundestag.de/themen/europa/neuer-aufbruch-in-ein-faires-europa & www.gruene-bundestag.de/themen/europa

(2) cms.gruene.de/uploads/documents/D-01NEU_Eind%C3%A4mmung_Erholung_und_Erneuerung.pdf (S.4-6)

(3)

https://ec.europa.eu/info/strategy/priorities-2019-2024/european-green-deal_en

(4) https://report.gndforeurope.com/edition-de/

(5) https://www.greens-efa.eu/de/artikel/press/european-climate-change-law/

(6) https://www.tagesschau.de/ausland/timmermans-greendeal-101.html

 

(7) cms.gruene.de/uploads/documents/20190328_Zwischenbericht_Gruenes_Grundsatzprogramm-2.pdf S.4-6

(8)

https://www.ccre.org/en/article/introducing_cemr

(9) https://www.ccre.org/en/article/political_structure

(10) https://www.ccre.org/en/elus?pay_id=7&association_id=&nom=&pbody_id=

(11) http://www.congressdatabase.coe.int/DefaultPublic.aspx

(12) http://www.congressdatabase.coe.int/WebForms/Public/Country.aspx?id=18

(13) https://cor.europa.eu/de/about/Pages/default.aspx

(14) https://cor.europa.eu/de/members/Pages/default.aspx?Country=Germany&Function=Member

 

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