Lieber empörte Mitmensch…

In der Corona-Pandemie haben wir es neben sachlichen Diskussionen und berechtigter Kritik leider allzu oft mit verkürzten („alternativen“) Fakten, den wildesten Verschwörungsmythen und politischen Extremismen zu tun. Menschen, von denen Mensch es nicht geglaubt hätte, driften in diesen Strudel ab, halten sich für Rebellen und ihre Mitmenschen für „Schlafschafe“. Wie kann Mensch mit ihnen umgehen? Kreissprecherin Martina Freisinger versucht es mit einem Brief:

22.08.20 – von Martina Freisinger

Du hast recht: Die aktuelle Situation ist für alle Beteiligten schwer auszuhalten. Die Freiheitseinschränkungen sind erheblich und auch die persönlichen Verletzungen durch das Verbot des Kontakts zu alten, kranken, sterbenden und behinderten Menschen in den entsprechenden Einrichtungen lassen sich kaum abschätzen. Ich habe selbst einige Zeit lang im Hospiz gearbeitet und kann nur erahnen, was für einen Schmerz diese Einschränkungen für die Sterbenden und ihre Angehörigen bedeutet haben.

Man kann wohl viele Maßnahmen, die in der ersten Zeit getroffen oder nicht getroffen wurden (bspw. ein Landestopp für Flieger aus China und dem Iran), kritisieren, weil sie vielleicht überstürzt oder zu zögerlich waren o.ä. Vor allem müssen wir unseren Regierenden aber aus meiner Sicht zugutehalten, dass sie bei der damals so unsicheren Faktenlage nicht anders entscheiden konnten.

Aktuell weisen die steigenden Fallzahlen auf eine zweite Welle der Pandemie hin. Trotzdem wurden viele Einschränkungen wieder aufgehoben und umfassende finanzielle Hilfen für diejenigen zugesagt, deren Geschäfte erheblich unter dem Lockdown leiden. Wie Du selber beschrieben hast, dürfen sogar Großdemonstrationen stattfinden, die die Polizei - im Fall der "Querdenken"-Demo - nur im absoluten Notfall auflöst. Von diktatorischen Verhältnissen kann nicht gesprochen werden, insbesondere mit Blick auf Länder wie Belarus, Iran usw., wo Demos für Demokratie mit größter Brutalität niedergeschlagen und Menschen in Gefängnissen misshandelt werden. Ja, auch hier gibt es so manches strukturelles Problem in der Polizei, das aufgearbeitet gehört. Jedoch kann da nicht von einem solchen Ausmaß wie Du es beschreibst die Rede sein.

In den Medien sehe ich jetzt genauso wie auch vor der Pandemie ein breites Meinungsspektrum. Wenn ich Artikel des linksliberalen "Freitag" mit einem der "Welt" über dasselbe Thema vergleiche, staune ich, wie unterschiedlich die Darstellungen und Hintergrundberichte dazu sind. Sogar zum Umgang mit der Pandemie gab es eine breite mediale Diskussion. Letztendlich kam am Ende aber oft die Erkenntnis, dass man zu wenig über diesen Virus wisse, als dass man die Strategie mit guten wissenschaftlichen Belegen kritisieren könne. Gleichgeschaltet ist hier aus meiner Sicht nichts. Auch hier lohnt sich zum Vergleich ein Blick ins Ausland, etwa nach Hongkong, wo der Übergang von einer pluralistischen Demokratie hin zu einem Teil des kommunistisch-diktatorisch regierten China insbesondere anhand der Verhaftungen von Medienschaffenden deutlich sichtbar wird. Auch in der Türkei können wir diese Entwicklung seit Jahren verfolgen. In Deutschland passiert so etwas nicht.

Dass das Tragen einer Maske unangenehm ist, kann ich aus meinem Alltag nur bestätigen. Es ist aber einfach nötig, und zwar weil es die Verbreitung von Aerosolen aus der Atemluft deutlich reduziert. Eine FFP3-Maske hat lediglich den weiteren Vorteil, dass sie nicht nur das Gegenüber des Trägers, sondern durch den eingebauten Filter auch den Träger selbst schützt. Solche Masken werde deshalb vor allem dort gebraucht, wo Ärzte und Pfleger mit nachweislich infizierten Personen direkten Kontakt haben. Im Zug/Im Supermarkt etc. reichen die selbstgenähten oder die einfachen OP-Masken, wenn alle sie tragen. Denn angesteckt sein kann man auch ohne es zu bemerken. Das Tragen dieser Maske ist für mich schlicht und einfach ein Zeichen des Respekts für meine Mitmenschen, dass ich sie nicht gefährden möchte, (schwer) zu erkranken. Dieses Zeichen erwarte ich von jedem, der sich in den entsprechenden Situationen bewegt, denn bekanntermaßen leben viele Menschen mit hochgefährdeten Personen zusammen, die an dem Virus garantiert schwer erkranken oder sogar sterben würde (oder gehören selbst zu den besonders gefährdeten Personengruppen). Dass so viele Menschen das offenbar nicht interessiert und sie sogar trotz mehrfacher Durchsagen im ÖPNV und großer medialer Präsenz des Themas bewusst ihre Maske falsch oder gar nicht tragen (wissend, was sie damit anrichten können), hat mein Vertrauen in unsere Gesellschaft, die sich eigentlich gegenseitig schützen und unterstützen soll, um ehrlich zu sein erheblich geschädigt.

Wenn wir nicht wollen, dass Kranke, Alte, Sterbende und Behinderte nochmal keinen Besuch bekommen können, dass Kinder wieder nicht mehr zur Schule oder zur Kita können und Existenzen wegen eines Lockdowns endgültig zerstört werden, müssen wir als Gesellschaft die Bedingungen dafür schaffen, d.h. Menschenmengen meiden, Reisen möglichst absagen oder Corona-konform planen, soziale Kontakte auf ein vertretbares Maß reduzieren, Termine Corona-gerecht umgestalten und da, wo Mindestabstände nicht eingehalten werden können, eine Maske an der dafür vorgesehenen Stelle tragen und Hände desinfizieren. Wer dies nicht tut, ist im Fall eines zweiten Lockdowns und weiterer größerer Zahlen von schwer Erkrankten und Toten aus meiner Sicht mitschuldig.

Noch etwas zur Demo am 1.8.: Ich habe mich sehr viel damit beschäftigt, wer dort demonstriert hat, welche Mythen sich um die Teilnehmer*innenzahl ranken und ob solche Demos generell momentan angemessen sind. Zunächst mal waren es garantiert nicht 500.000 oder 1,3 Millionen, sondern zwischen 17.000 und 20.000 Menschen. Diese Zahl lässt sich anhand von Luftaufnahmen nachweisen, etwa im Vergleich zu Luftbildern der Love Parade 2001, wo am selben Ort wirklich ca. 1,3 Millionen Menschen waren, oder durch simples Nachrechnen der von Menschen besetzten Gesamtfläche geteilt durch die Fläche, die eine Einzelperson üblicherweise auf einer Großdemonstration einnimmt. In einem Video, das den gesamten Demo-Zug zeigt, kannst Du spaßeshalber auch einfach selber nachzählen, wie viele Menschen vorbeiziehen. Hier noch ein paar gute Faktenchecks zu dem Thema:

Und zu den Menschen, die dort waren: Allein der Titel "Tag der Freiheit", eine Anlehnung an einen Propagandafilm von Leni Riefenstahl über den NSDAP-Parteitag 1935, sagt schon einiges über das Gedankengut der Veranstalter aus. Der Leiter der Demo, der den Verein "Querdenken 711" gegründet hat, fällt weiterhin vor allem durch rechtsextreme, verschwörungstheoretische und antisemitische Äußerungen in sozialen Netzwerken auf:

Auf der Demo waren weiterhin in großem Maße vertreten: Anhänger*innen der antisemitischen Verschwörungstheorie "QAnon" und des rechtsextremen Verschwörungsideologen Heiko Schrang (bekannt durch den Slogan "erkennen, erwachen, verändern"), die NPD, die AfD, das Compact-Magazin, der III. Weg, weitere Vertreter*innen von Germanen- und Nazi-Kult, radikale Impfgegner*innen, Chemtrail-Gläubige und sonstige vor allem rechtsextreme Esoteriker*innen (die z.T. auch der völkischen Siedlungsbewegung zuzuordnen sein dürften), Reichsbürger*innen und weitere einschlägige Gruppierungen und Einzelpersonen. Das Jüdische Forum für Demokratie und gegen Antisemitismus war auf der Demo zugegen und hat Bilder und Videos zusammen gestellt und Hintergründe erklärt. Nicht alles ist sofort als Verschwörungstheorie erkennbar. Viele Symbole, Schlüsselworte und Namen sind dem Otto Normalverbraucher nicht bekannt. Bei näherer Beschäftigung mit der Sache wird das Bild aber eindeutig.

Ich glaube Dir sehr gern, dass du persönlich nicht zu diesen Gruppen gehörst und viele andere auf der Demo ebenfalls nicht. Ich erwarte aber von jedem Menschen, dass er sich informiert, mit wem er sich eine Demo teilt und seine Konsequenzen daraus zieht. Ich würde mich mit all diesen Menschen nicht gemein machen wollen, insbesondere wenn sie wie im Fall der Demo am 1.8. die Demo offensichtlich dominieren:

Dass die Polizei die Demo erst so spät (gegen 17 Uhr) auflöste, obwohl es erhebliche Verletzungen der Corona-Bestimmungen gab und die Veranstalter sowohl im Vorfeld der Demo als auch am Tag selbst die Demonstrierenden zum Bruch dieser Regeln aufgefordert haben, berechtigt aus meiner Sicht durchaus die Frage, ob solche Demos in Anbetracht der Pandemie aktuell überhaupt erlaubt werden sollten. In jedem Fall zeigt es aber, dass hier nicht von einer restriktiv handelnden Staatsgewalt gesprochen werden kann.

Übrigens habe ich ein paar Tage später eine Presseschau im Info-Radio zu der Demo gehört, in der aus spanischen Zeitungen zitiert wurde. In Spanien waren die Infektions- und Todeszahlen bekanntlich wesentlich höher und der Lockdown wesentlich härter als hier in Deutschland. Kein einziges Medium hatte aber auch nur einen Hauch von Verständnis für diese Art von Protest, weder aus wissenschaftlicher noch aus menschlicher Sicht.

Ich hoffe, damit konnte ich Dir meine Sichtweise auf das Thema und Deinen Text verständlich darstellen.

Bleib gesund!

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